Wie mich mein Auslandsjahr nach Akita gebracht hat
Gerade erst 16 Jahre alt geworden, startete ich in meine Ausbildung als Fahrzeuglackierer. Damals hörte ich oft von gut betuchten Abiturienten aus der Nachbarschaft, welche nach ihrer doch so schweren Schulzeit erst einmal ein Auslandsjahr nach Australien oder Neuseeland brauchten. Vielleicht hörst du es schon heraus; Ich war total voreingenommen. Für mich kamen solche Gedankenspiele nicht in Frage, ich musste mein eigenes Geld verdienen.
Einige Jahre später, mittlerweile bei der Bundeswehr, wandelte sich dieser Gedanke. In meiner Verwendung kam ich in allerlei Länder, sah verschiedenste Kulturen und war oft derjenige, der, wenn nötig, dolmetschen musste. Aus Zufall erfuhr ich, dass ein Auslandsjahr in mehr Ländern als gedacht möglich ist, aber auch, dass es meist eine Altersbegrenzung gibt. “Vielleicht wäre ein Work and Travel am Ende meiner Dienstzeit genau das Richtige”, dachte ich bald. Eine ganz andere Kultur kennenlernen, Kontakt zu Fremden aufbauen, eine neue Sprache lernen und sich selbst einer Herausforderung stellen. Da Englisch für mich nie ein Problem dargestellt hat, sollte es also ein Land sein, in dem ich mit Englisch alleine nicht weiterkäme und da ich alleine Reisen wollte, sollte es zudem ein sicheres Reiseland sein.
Zugegeben: Ich hatte schon länger Berührungspunkte mit Japan. Als Kind der 90er wuchs ich mit Anime und Manga auf, später beeindruckten mich vor allem Autos und Motorräder japanischer Hersteller, ein richtiger Otaku war ich aber nie. Erst jetzt, da sich meine Dienstzeit dem Ende näherte, ich ein Auslandsjahr in Erwägung zog und aus einer Laune heraus in einer Sprachlern-App den Japanischkurs ausprobierte, kam alles zusammen!
Bald lernte ich wie besessen Japanisch, suchte alle nur erdenklichen Informationen und bereitete mich intensiv auf meine Reise vor. Aufgrund der Coronapandemie musste ich meine Pläne ein wenig verschieben, machte zuerst die Fachhochschulreife und konnte gerade noch rechtzeitig vor meinem 30 Geburtstag meine Reise starten.
Meinen ersten Monat verbrachte ich wie so viele in Tokyo. Ich komme aus einer sehr ländlichen Region in Norddeutschland und war auf der Suche nach einer Herausforderung. Die größte Metropolregion der Welt sollte dem Gerecht werden, dachte ich. Im voraus buchte ich eine Sprachschule und ein Share-House für diesen Monat. Die erste Erkenntnis: Im ersten Moment ist Tokyo unfassbar interessant und aufregend. So viele neue Eindrücke prasselten auf mich Jetlag-geplagten Neuankömmling ein, dessen urbanste Lebenserfahrung bisher Hannover darstellte.
Die ersten Tage spulte ich das typische Programm ab: Akihabara, Asakusa, Shibuya, Meiji Jingu Schrein, Tokyo Tower, Skytree. Klar alles ist neu, alles ist aufregend. Selbst die völlig vollgestopften Bahnlinien auf dem allmorgendlichen Weg zur Sprachschule waren für mich, der bisher kaum solche Verkehrsarten genutzt hat, irgendwie spannend. Ein DJ-Set im Hochhaus in Shibuya; Clubnächte in Roppongi; endlose Shopping-Möglichkeiten in Harajuku, große Tunertreffen mit “Fast and the Furious”- Feeling in Daikoku PA – Die Möglichkeiten scheinen grenzenlos. Etwa so wie das Betonmeer, welches sich vom Skytree aus gesehen in alle Richtungen zu erstrecken scheint.
Kaum war die Orientierungsphase aber vorbei merkte ich, dass es keinen Ort in der Metropole gibt, an dem man wirklich abschalten kann. Selbst an den abgeschiedensten Orten wimmelt es vor Leuten. Echte Kontakte zu Japanern zu knüpfen fällt schwer, da alle ihrem Tageswerk nachhetzen, Feste sind absolut überfüllt und echte Kultur meiner Meinung nach schwer ausfindig zu machen – alles fühlt sich doch mehr nach internationaler Business-Metropole als nach “Japan” an. Und das kommt nicht von ungefähr: Wer Karriere machen will, muss fast gezwungenermaßen irgendwann nach Tokyo. Der Wohnraum im Zentrum ist unbezahlbar, weswegen viele Angestellte immer weitere Strecken aus der Metropolregion als täglichen Arbeitsweg in Kauf nehmen.
Auch lernte ich im Sharehouse einige Personen kennen, die ihr Auslandsjahr ausschließlich in Tokyo vebrachten, aber anstatt all die Möglichkeiten zu nutzen eine andere Kultur und Gesellschaft kennenzulernen, an einer Sprachschule Japanisch zu lernen oder durch einen Part-Time Job den Arbeitsalltag zu ergründen, spielten sie lieber nachts mit ihren Freunden in der Heimat Videospiele oder schauten in ihrem Zimmer Animes.
Da ich nur einen Monat gebucht hatte um flexibel zu bleiben, wandte ich mich mit diesen Eindrücken bald an Sayaka von takemetojapan.com, mit der Bitte eine Sprachschule ausfindig zu machen, die in etwa das Kontrastprogramm zu dem bietet, was ich in Tokyo erlebte. Sayakas Service war erstklassig und obwohl viel zu kurzfristig schaffte sie es, mich für den nächsten Kurs an der Akita Inaka School einzubuchen. Ich wollte mein Auslandsjahr so gut es geht nutzen, das Land erkunden und am besten immer auch weiter Japanisch lernen.
Kurz darauf stieg ich zum ersten Mal in den Shinkansen und fuhr von Tokyo Richtung Morioka. Als Präfekturhauptstadt von Iwate ist Morioka zwar noch immer eine große Stadt, das Feeling war aber direkt befreiend. Beim Umstieg ließ sich, wie fast von überall in der Stadt, der Berg Iwate erblicken. Hier erwischte ich in letzter Minute den Bus Richtung Kazuno, der mich innerhalb einer Stunde ins komplett verschneite Kosaka brachte. Hier teilte ich mir mit 4 anderen Schülern für einen Monat ein typisches Haus. Groß genug um bei Bedarf seine Ruhe zu genießen, groß genug um andere Schüler einzuladen und Takoyaki-Partys zu veranstalten. Typisch unisoliert mit Kerosinheizlüfter, typisch mit Futon auf Tatamiboden. Halt genau so wie alle anderen in der Umgebung wohnen. Genau so authentisch wie ich mein Auslandsjahr gestalten wollte.
Im Ort gibt es zwar nur einen Supermarkt und einige wenige Restaurants, dafür präsentiert sich Japan von seiner echten Seite. Die Nachbarskinder rufen im vorbeigehen fröhlich wahlweise “hello” oder “konnichiwa”, bei den Festen im Ort darf man nicht nur zugucken sondern wird zum Mitmachen eingeladen und die örtliche Taikogruppe freut sich über jeden, der Interesse an ihrem Hobby zeigt. Der Monat war geprägt von atemberaubenden schneebedeckten Landschaften, die während den zahlreichen Aktivitäten nach dem Sprachunterricht am Vormittag erkundet werden wollten. Dadurch, dass jeder Tag etwas neues ausprobiert werden konnte, vermisste ich nie die Möglichkeit so wie in Toyko feiern zu gehen. Gingen wir den einen Tag in der Nähe einer heißen Quelle in unberührter Natur Schneeschuhlaufen, stand am nächsten Tag das Schneelaternenfestival in Hirosaki an. Nicht nur konnte ich als Nordlicht das erste Mal Snowboard fahren, auch kam ich in den Genuss einer Einweisung zur Handhabung des Katanas mit anschließendem Schneiden von Bambusmatten. Währenddessen wuchs von Tag zu Tag die Gemeinschaft der Schüler zu einer bunt gemischten Gruppe von Freunden heran. Vielleicht geht es nur mir so, aber die Menschenmassen der Stadt vermisste ich kein einziges Mal. So abwechslungsreich präsentierte sich mein Auslandsjahr nur hier und viel zu schnell ging der Kurs so dem Ende entgegen.
Da ich mich in Kosaka so wohlfühlte, entschloss ich zum Kursende kurzerhand, nach einer Arbeitsgelegenheit zu fragen. Da ich im Sinne des Work and Travel nicht nur reisen, sondern auch arbeiten wollte, könnte ich bei Gelegenheit stets zurückkommen, dachte ich mir. Für´s erste jedoch würde ich weiter Richtung Hokkaido reisen und Freunde aus Deutschland treffen. Ein halbes Jahr verging, und um einen guten Eindruck vom Land zu bekommen, reiste ich von Hokkaido zurück durch Tohoku Richtung Kanto, dann nach Kansai. Immer möglichst mit abwechselnden Stopps in Stadt und Land, um für mich besser herauszufinden, was mir letztlich eher liegt. Und spätestens nach dem Sommer, nachdem ich erst einen Monat in einem Gasthaus in Osaka und danach knapp zwei Monate auf einem ökologischen Bauernhof in den Bergen um Kyoto gearbeitet hatte, wusste ich: Ich will zurück nach Kosaka! Kyoto und Osaka hatten auf mich denselben Eindruck hinterlassen wie zuvor Tokyo: Interessant und aufregend, aber völlig überfüllt und auf Dauer zu unpersönlich und zu geschäftig, als dass ich mich wohlgefühlt hätte. Langfristig bevorzuge ich dann doch die Ruhe und die gelebte Gesellschaft auf dem Land.
Glücklicherweise kam gerade jetzt eine E-Mail von der Schule, die sich an meine Anfrage erinnerte und mir anbot, für einen Kurs auszuhelfen. Ich sagte ohne zu überlegen zu und war kurz darauf zurück im Norden Akitas. Nun entwickelte sich langsam der Wunsch, auch anderen Reisenden und Japan-Interessierten Tohoku näherzubringen. Gerade für den Start eines Work and Travel denke ich, gibt es nichts Besseres, als sich langsam an Land und Leute zu gewöhnen, bevor man sich später mit den ersten Einblicken und Erfahrungen aufmacht, um das Land auf eigene Faust zu entdecken.
Nach dem Ende meines Auslandsjahres startete ich zurück in Deutschland ins Studium, aber egal was ich auch tat, die Idee, etwas für die Region zu machen, ließ mich nicht in Ruhe. Der Landflucht entgegenwirken, zeigen, was die Region zu bieten hat, dabei helfen, Traditionen und Kultur zu bewahren und zudem die Organisation eines Work and Travels oder einer Sprachreise vereinfachen, damit mehr Leute den Schritt wagen und während ihres Abenteuers in Japan lebensverändernde Erfahrungen sammeln können. Neben dem Studium kam so die Idee von ENJ zustande, und letztlich wagte ich den nächsten großen Schritt und wanderte nach Japan aus.
So oder so ähnlich könnte dein eigenes Auslandsjahr, gepaart mit ein wenig Eigeninitiative und Aufgeschlossenheit, also deine Zukunft verändern! Das Studium habe ich übrigens abgebrochen und bisher keinen Tag bereut. Seiner eigenen Leidenschaft nachzugehen, fühlt sich dann doch sinnvoller an als Alles, was man an der Universität lernen könnte.
Was hältst du von diesem Thema? Hast du ganz andere Erfahrungen? Bevorzugst du die Metropole? Lass es uns wissen!